Karsten M. Thiel interpretiert die Genealogie der Moral neu. Er rückt Nietzsches Kritik an der Geschichtsschreibung ins Zentrum der Betrachtung und nimmt so seiner Moralkritik alles Schrille, das ihr gewöhnlich anhaftet.
Für Nietzsche muss die Geschichtsschreibung über einen belastbaren Begriff von Vergangenheit verfügen. Doch wie konnte es zu einer Geschichtsschreibung ohne einen solchen Begriff überhaupt kommen? Nietzsches Antwort ist verblüffend. Für ihn war Geschichtsschreibung bisher fast immer teleologisch, ausgerichtet auf ein Ideal statt auf die Vergangenheit. Sein Gegenmodell ist die Genealogie: Sinn vergeht, indem er von späterem Sinn »überschrieben« wird. In der Genealogie der Moral ist ein solches Überschreiben mehrfach zu beobachten. Die Sklavenmoral erobert den Sinn der Herrenmoral, der archaische Vertrag zwischen Schuldner und Gläubiger wird immer wieder neu ausgelegt, wird zu Gerechtigkeit, schlechtem Gewissen und Schuld. Karsten M. Thiel interpretiert die Genealogie der Moral neu. Er rückt Nietzsches Kritik an der Geschichtsschreibung ins Zentrum der Betrachtung und nimmt so seiner Moralkritik alles Schrille, das ihr gewöhnlich anhaftet.