Wie Nietzsche lesen? Nietzsches Nachlass und Lektüren

Ausschreibung: 3. Forum Junger Nietzscheforschung des Kollegs Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar

Vom 14.-19. März 2016, Wielandgut Oßmannstedt bei Weimar.

Leitung: Prof. Dr. Paolo D’Iorio (Paris), Prof. Dr. Vivetta Vivarelli (Florenz), Dr. Rüdiger Schmidt-Grépály (Weimar)

Wie kann man ein guter Nietzsche-Leser werden? Das heißt, mit Nietzsches eigenen Worten: „ein Leser, wie ich ihn verdiene, der mich liest, wie gute alte Philologen ihren Horaz lasen?“ (Ecce homo)
Im Vordergrund dieses dritten Forums Junger Nietzscheforschung steht die Überzeugung, dass mindestens zwei Grundanforderungen erfüllt werden müssen, um Nietzsche lesen zu lernen: Zum einen müssen seine Schreibstrategien unter Einbeziehung der nachgelassenen Schriften eingehend erforscht werden, um seine semantischen und stilistischen Entscheidungen zu begreifen; zum anderen sind unter Heranziehung seiner Bibliothek und Lektüren die vielfältigen kulturellen Bezüge Nietzsches aufzuspüren, um den geistigen Kontext zu verstehen, in dem seine Gedanken entstanden und in dem sie ihre Tiefe erlangen.
Den Nachlass in einer genetischen Perspektive untersuchen bedeutet, den Weg, der vom ersten Entwurf über verschiedene Zwischenstufen zur Endfassung eines Textes führt, nachzuvollziehen. Dabei entdeckt man, dass nicht nur die Wortwahl, sondern auch die rhetorischen Figuren und die Echowirkungen, die in der Architektur seiner Bücher zwischen den nie zufällig angeordneten Texten entstehen, stets sorgfältig konstruiert und abgewogen sind, um bestimmte Stileffekte zu erzielen, mit denen sich ein philosophischer Sinn verknüpft. Deshalb ist Nietzsche gleichzeitig ein großer Philosoph und ein großer Schriftsteller. „Kein Bild, kein Wort, auch kein Interpunktionszeichen ist bei Nietzsche zufällig. Dies geduldig zu berücksichtigen macht den Leser reicher, es macht ihn auch tiefer, aufmerksamer, misstrauischer (Nietzsche und sich selber gegenüber).“ (Montinari, Nietzsche lesen)
Für die Interpretation aller großen Autoren und so auch Nietzsches ist es wichtig, nicht nur ihre Texte und ihren Nachlass zu lesen, sondern eine Art „Lektüre im Quadrat“ in Angriff zu nehmen, also das zu lesen, was sie lasen. Im Fall Nietzsches ist die Erforschung seiner idealen Bibliothek jedoch besonders wichtig, weil die Kultur seiner Zeit, die Gesprächspartner und Diskussionen, die er kannte und mit denen er sich auseinandersetzte – auf dem Gebiet der Metaphysik wie der Moral, der Biologie wie der Kosmologie, – fast gänzlich aus der heutigen philosophischen Diskussion verschwunden sind und auch die Handbücher zur Philosophiegeschichte der Epoche des Kant-Positivismus, in der Nietzsche lebte, nur wenige Zeilen widmen. Grundlegende „Gesprächspartner“ Nietzsches wie Friedrich Albert Lange, Eduard von Hartmann, Eugen Dühring, aber auch Herbert Spencer oder John Stuart Mill werden immer weniger studiert und nur selten mit Nietzsche in Zusammenhang gebracht. Dasselbe gilt für französische Autoren wie z. B. Hippolyte Taine, Paul Bourget und Émile Gebhart. Mazzino Montinari rekurrierte auf den Begriff der „verschobenen Lektüre“, um die Bedeutung einer solchen Untersuchung zu verdeutlichen: „Wir sollten nie vergessen, dass unsere Lektüre Nietzsches eine ›verschobene, verspätete Lektüre‹ ist. D.h. die Fragen, auf die Nietzsche durch seine Schriften und Meditationen antwortete, sind nicht mit unseren Fragen identisch. Um ihn wirklich zu verstehen, muss man somit den Versuch unternehmen, jene Fragen (und Fragestellenden) zu erkennen. Man muss Nietzsche auch (nicht nur: Zusatz für Spekulanten) historisch verstehen können. Deshalb ist es eine notwendige Aufgabe der Nietzsche-Forschung, nach seinen Quellen zu suchen, seine ideale Bibliothek zu rekonstruieren, die Zeitgenossen, mit denen er sich auseinandersetzte, ebenso kennenzulernen wie die realen Verbindungen Nietzsches zu Individuen und Kreisen seiner Zeit, die für seine spätere Wirkung entscheidend werden sollten: Vor-, Mit- und Nachwelt Nietzsches“. (Montinari, Nietzsche lesen).

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird das 3. Forum Junger Nietzscheforschung zu illustrieren versuchen, wie die genetische Untersuchung des Nachlasses bzw. die historisch-genetische Erforschung von Nietzsches Lektüren zum genaueren Verständnis eines Aphorismus, eines Themas oder eines Begriffs von Nietzsches Philosophie und zu einer vielschichtigeren, angemesseneren philosophischen Interpretation beiträgt.
Die Ausschreibung richtet sich an Graduierte (mindestens ab Bachelor) aller Fakultäten. Die Arbeitssprache ist Deutsch. Bewerbungen aus dem Ausland sind willkommen: Das Forum soll den Austausch junger Nietzscheforscherinnen und -forscher aus verschiedenen Ländern fördern. Wir bitten um eine formlose Bewerbung, die Ihr Interesse an diesem Thema in einem Umfang von maximal zwei Seiten auf Deutsch zum Ausdruck bringt, sowie um einen kurzen Lebenslauf.
Für die ca. 15 Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden alle anfallenden Kosten übernommen (Reisekosten, Unterbringung und Verpflegung). Berücksichtigt werden ausschließlich Bewerbungen via E-Mail an kolleg-nietzsche@klassik-stiftung.de, die bis 31. Oktober 2015 eingehen.
Das dritte Forum Junger Nietzscheforschung ist Mazzino Montinari im dreißigsten Todesjahr gewidmet.

Bibliographie
Giuliano Campioni, Les lectures françaises de Nietzsche, Paris, PUF, 2001, pp. 295.
Paolo D’Iorio, Le voyage de Nietzsche à Sorrente. Genèse de la philosophie de l’esprit libre, Paris, CNRS-Éditions, 2012, pp. 245.
Maria Cristina Fornari, Die Entwicklung der Herdenmoral. Nietzsche liest Spencer und Mill, Wiesbaden, Harrassowitz Verlag („Kultur- und sozialwissenschaftliche Studien“, 3), 2009, p. 285.
Mazzino Montinari, Nietzsche Lesen, Berlin/New York, de Gruyter, 1980, pp. 214.
Mazzino Montinari, Friedrich Nietzsche. Eine Einführung. Aus dem Italienischen übersetzt von Renate Müller-Buck, Berlin/New York, de Gruyter, 1991, p. 145.
Wolfgang Müller-Lauter, »Über den Umgang mit Nietzsche«, Sinn und Form, 43 (1991), p. 833-851.
Rüdiger Schmidt (-Grépály),»Nietzsches Drossbach-Lektüre«, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, hg. v. E. Behler u.a., Berlin, New York 1988, Bd. 17, S. 465–477.
Vivetta Vivarelli, L’immagine rovesciata: le letture di Nietzsche, Genova, Marietti, 1992, p. 179.
Vivetta Vivarelli, Nietzsche und die Masken des freien Geistes. Montaigne, Pascal und Sterne, Würzburg, Königshausen & Neumann, 1998, p. 163.
Nietzsches persönliche Bibliothek, hg. von G. Campioni, P. D’Iorio, M. C. Fornari, F. Fronterotta, A. Orsucci unter Mitwirkung von R. Müller-Buck, Berlin/New York, de Gruyter, 2003, p. 763.
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hg von von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, De Gruyter, Berlin/Boston.

Ausschreibung (PDF)

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