Friedrich Nietzsche und Norbert Elias haben zivilisationsgeschichtliche Entwürfe Europas vorgelegt, die unter den Bedingungen einer stetig voranschreitenden Globalisierung weiter an Bedeutung gewinnen werden. Die philosophische Brisanz ihres Zugriffs wird v.a. dort ersichtlich, wo identitätsstiftende Konzepte des europäischen Selbstverständnisses wie etwa „Verantwortung“ und „Gewissen“, „Subjektivität“ und „Vernunft“ nicht mehr als gegebene Größen und Voraussetzungen, sondern als Produkte und Wechselwirkungen einer spezifischen gesellschaftlichen Entwicklung und Eigendynamik sichtbar gemacht werden. Beide Denker haben konsequent gegen die klassischen Ausprägungen ihrer Disziplinen angedacht und in Gestalt genealogischer Hypothesen bzw. des interdependenztheoretischen und figurationsanalytischen Zugriffs einer reichhaltigeren Betrachtung kultureller Phänomene nachhaltig zur Geltung verholfen. Das Umdenken der Kultur und die dafür erforderliche neue Kultur des Denkens bei Nietzsche und Elias sind darum in besonderer Weise geeignet, durch wechselseitige Spiegelung und Kontrastierung einander zu erhellen und zu ergänzen.
Der vorliegende Sammelband betritt als das Produkt einer internationalen und interdisziplinären Konferenz wissenschaftliches Neuland ? in ihm wird die Nietzsche-Elias-Frage zum ersten Mal überhaupt in einem größeren Rahmen gestellt und diskutiert.
Friederike Günther, Angela Holzer und Enrico Müller (Hrsg.), Zur Genealogie des Zivilisationsprozesses. Friedrich Nietzsche und Norbert Elias, Berlin/New York: De Gruyter 2010, XII/323 Seiten, € 89.95.
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