NAUMBURG/MZ. Martin Walser kommt nicht. Martin Walser erscheint. Seiner ganzen Länge nach durchmisst er den Vortragsraum, legt den beigen Trenchcoat ab, grüßt sein Publikum, das alle zur Verfügung stehenden 140 Stühle belegt hat – selbst Stehplätze sind kaum noch finden – und setzt sich.
So vollzieht sich am Freitagabend im neu eröffneten Nietzsche-Dokumentationszentrum in Naumburg der Auftritt des Schriftstellers, der als 84-Jähriger zum ersten Mal diese Stätte eines seiner philosophischen Hausheiligen besucht. Denn das ist der Röckener Pfarrerssohn, der in dieser Stadt aufwuchs und einige Jahre vor seinem Lebensende als geistig Umnachteter dorthin zurückkehrte, neben Kierkegaard und Hölderlin, Hegel und Heidegger. “Lebenslänglich Nietzsche” also, so ist die Lesung überschrieben und meint Walsers fortgesetzte Auseinandersetzung mit dem Philosophen.
Dabei lässt sich keine Erzählung, kein Roman, kein Essay des Schriftstellers ausmachen, die oder der ausschließlich Nietzsche gewidmet ist. Aber, so Walser: “Als ich meinen Computer fragte, wie oft Nietzsche in meinem Werk vorkam, antwortete er: 732 Mal.” Es sind vielmehr die Helmut Halms und Michael Landolfs, Protagonisten seiner Bücher, die als Nietzsche-Anhänger gezeichnet sind, und es sind Essays, an denen die Wirkungen des Denkers ablesbar sind. Seinen Umgang mit Nietzsche bezeichnet Walser als “Anrufung”, bei der “Verehrung und Dankbarkeit maßgebend” sind. Angesichts einer Kehlkopfentzündung kündigt der Schriftsteller vorsichtshalber das mögliche Verenden der Lesung im Schweigen an. Aber das wird an diesem Abend nicht passieren. Im Gegenteil.
Also beginnt Walser seine Nietzsche-Spurensuche in eigener Sache, die nebenbei ein rasanter Ritt durch sein Werk ist. Walser idealisiert Nietzsche nicht, sondern er macht ihn für die Gegenwart nutzbar. Und es ist eine Freude, ihm dabei zu folgen, auch weil seine Essays meist ein Denken und Sprechen gegen den Zeitgeist sind.
Oder genau bedachte Tabubrüche, wie in dem Essay “Der Leser”, in dem Walser Ende der 70er Jahre die deutsche Teilung in Zweifel zog und Deutschland als eine Denklandschaft verstand, indem er sich über politisch gezogene Staatsgrenzen hinweg setzte. Leipzig “ist mein”, schrieb er damals, auch wenn er dort noch nie gewesen war. Nietzsche konnte kein Ausländer sein. Auch bei dieser Lesung ist all das zu erleben, wofür man Walser schätzen kann: für seine bestürzende Erkenntnisschärfe, seine schonungslose Neugier, seine radikale Wahrnehmungsfähigkeit.
Und wie könnte man über Walser reden, ohne die Schönheit seiner Sprache zu erwähnen? Das wiederum führt direkt zu seinem wichtigsten Philosophen. Walser: “Nietzsche ist in unserer Sprache die mächtigste Verführung.” Eine Einsicht, die nicht nur für “Ein springender Brunnen”, einen seiner schönsten Romane gilt, dessen Titel auf Nietzsches “Zarathustra” verweist und in dem Sprache als Medium der Erinnerung beschworen wird, sondern für das Gesamtwerk des Schriftstellers.
Zum Ende hin wird Walsers Vortrag rhetorisch ausladender, feuriger. Man hört nun genau, dass ihm sein Nietzsche in die Stimme gefahren ist. Die Kehlkopfentzündung ist dem Schriftsteller nicht mehr anzumerken.
CHRISTINA ONNASCH
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